Morse by Horse
Drehscheibe, Frankfurt am Main
2006
Frankfurt am Main. Autofahrer, die im Verkehrsstrom der Theodor-Heuss-Allee am Standort der Sparkassen Informatik vorbeirauschen, erkennen im Bruchteil eines Augenblicks etwas Altvertrautes. Was der flüchtige Blick einfängt, ist eine kleine Spielzeugfigur, ein Pferdchen, dessen Glieder in Bewegung geraten, wenn man gegen die Unterseite seines Sockels drückt. Aus Däumlingsdimensionen ist es hier auf sechs Meter Höhe skaliert. Ein Reiterstandbild der anderen Art.
Reiterstandbilder, die als Selbstdarstellungen der Herrscher im 17. Jahrhundert populär waren, sind Zeichen der Macht. Als lebendiger Thron überträgt das Ross seine Dynamik, Schönheit und Kraft auf den Reiter. Die Darstellung vermittelt die Bändigung des Animalischen, Meisterung der Materie und Führungskompetenz schlechthin.
Nun definiert sich die Sparkassen Informatik, vor deren Sitz das reiterlose Pferd steht, über eine Dienstleistung. Es geht um Geld und persönliche Daten – genauer: um verlässliche Informationsverarbeitung und sicheren Datentransfer, also eine sensible und hochabstrakte Angelegenheit. Ursprüngliche Personifizierung des Datenverkehrs ist der berittene Bote. Für die Überbringung einer Nachricht an den richtigen Empfänger bürgte er mit seinem Leben. Und er lebte gefährlich. Er konnte abgefangen werden. Oder zu spät kommen. Eine schlechte Nachricht konnte ihn sein Leben kosten. Alles hing von seiner Ausdauer, seiner Intelligenz und seiner Integrität ab.
Im Zuge unserer Recherchen zur Geschichte der Datenübertragung stießen wir auf eine Episode, welche die Gleichzeitigkeit der analogen und elektronischen bzw. digitalen Welt anschaulich verdeutlicht: Als in Australien im 19. Jahrhundert die erste elektromagnetische Telegrafenlinie von Küste zu Küste gebaut wurde, überbrückten berittene Boten das letzte Stück durch unwegsames Gelände, bis das Ost- und Westkabel miteinander verbunden waren. „Morse by horse!“ lautete die Schlagzeile. Der berittene Bote schloss die Lücke im Prozess der Technologisierung. Er ist der Dienstleister, das Rädchen im Getriebe oder, um es im Jargon des digitalen Zeitalters zu sagen: der Knoten im Netzwerk der Kommunikation.
Als zweites Element von Morse by Horse kommen zwei Signalleuchten ins Spiel. Auf fast zehn Meter hohen Masten überragen sie den Publikumsverkehr. Eine im Eingangsfoyer, die zweite auf einer diagonalen Achse dazu auf dem Vorplatz schaffen sie eine Verbindung zwischen innen und außen. Die Leuchten kommunizieren miteinander per Lichtsignale im Morsecode. Beide sind sowohl Sender als auch Empfänger. Die Signale sind auf das Wesentliche reduziert: on/off, hell/dunkel, 1/0.
Samuel Morse, eigentlich Kunstmaler von Beruf, übertrug unser Alphabet in einen Code, der in elektromagnetische Impulse, aber auch in Töne oder Lichtsignale übersetzt werden kann. Aus Draht, Blechresten und seiner Wanduhr baute er Mitte des 19. Jahrhunderts den ersten Morseapparat. Fasziniert von der Idee eines universalen Zeichencodes und einer weltweiten Kommunikation, entwickelte er den Code nicht als Geheimsprache, sondern offen und erlernbar.
Dementsprechend ist der Schlüssel zu dem Code auch hier vor Ort hinterlegt. Das Morsealphabet mit seiner Übersetzung in Klartext erscheint eingraviert auf den Edelstahlscheiben, in denen die beiden Signalleuchten fußen. Der interessierte Betrachter könnte jederzeit den Morsecode erlernen und die Botschaften der Lampen dechiffrieren. Zudem wäre es kurzweilig, denn sie erzählen sich Witze.
Der Witz ist eine elementare Form von Kommunikation. Er spielt mit dem Unvorhergesehenen, durchbricht das Raster des Gewohnten und setzt auf Überraschung. Der Witz funktioniert im Dialog. Erst die Interpretationsleistung des Gegenübers aktiviert seine Komik. Lachen ist eine Reaktion auf eine Versteifung des Lebendigen und hat letztlich stets eine soziale Funktion, so der Kulturphilosoph Henri Bergson. Es mag Pointen geben, die man nicht versteht. Wenn aber der Groschen fällt, ist kaum etwas so verbindend wie das gemeinsame Lachen.
Warum Spielzeug? Warum Sprachspiel? Ohne die Lust und die Fähigkeit zum Spiel hätten sich ganze Bereiche der Kultur nicht entwickelt. Aus dem Überfluss des Schöpferischen entspringt Innovation. Dem Homo ludens gehört die Welt, die er spielend kreiert.
aus: Dellbrügge de Moll, Morse by Horse. Manual, Frankfurt am Main 2006