Das Institute for Contemporary Art Moscow ist mangels eines eigenen Gebäudes im verlassenen Atelier Ilya Kabakovs untergebracht. Der Grundriss dieses Raums liefert die Basisform für das Substitut of Contemporary Art. So wie Le Corbusier eine Wohnzelle als Modul einer ganzen Stadtstruktur zugrundelegte, wird die optimale Form für das Substitut im Spannungsfeld zwischen dem ebenerdigen Haus, das aus nur einem Raum besteht, und dem Wolkenkratzer-Komplex gesucht.
aus: Dellbrügge de Moll substitut@ica, Moskau 1996
Der für das Substitut gedachte Ort im Stadtraum ist der Manegenplatz in unmittelbarer Kreml-Nähe. Einerseits wegen seiner zentralen Lage, andererseits wegen seiner langfristigen Besetzung durch eine Großbaustelle. Solange die dort projektierten Einkaufszentren noch nicht sichtbar geworden sind, bietet dieser Platz einen mentalen Freiraum. Die Fundamente sind gelegt und die Bauarbeiten fortgeschritten.
aus: Dellbrügge de Moll substitut@ica, Moskau 1996
Das Substitute of Contemporary Art ist eine rhizomatische Erweiterung des Institute for Contemporary Art. Es wird in die Landschaft der virtuellen Institutionen Moskaus gesetzt, die durch Benennung, Einzelpersonen und deren kommunikative Aktivitäten existieren. Das Substitute entsteht auf virtueller, medialer und materieller Ebene. Hierfür wird im ICA ein Planungsbüro eingerichtet. In der Phase öffentlichen Arbeitens wird die institutionelle Struktur und die architektonsiche Gestalt des Substituts konzipiert. Gespräche mit Architekten, Ökonomen und Künstlern sind vorgesehen. Es ist möglich, durch Kritik und Kommentar Einfluß zu nehmen.
aus: Dellbrügge de Moll substitut@ica, Moskau 1996
Dellbrügge de Moll kamen mit einem Stipendium des Berliner Senats für acht Monate nach Moskau. Als erste öffentliche Geste eröffneten sie im Institut für Zeitgenössische Kunst ein Planungsbüro. Dem Publikum wurde der Entwurf eines neuen Gebäudes für zeitgenössische Kunst auf dem Manegen-Platz vorgestellt. Die Künstler sind sich völlig über den spekulativen Charakter ihres Projekts „Substitut für Zeitgenössische Kunst“ im Klaren, dass sie zur Diskussion stellen. Sie sind professionelle artists in residence Seit 1988 ziehen sie fast ununterbrochen durch verschiedene Städte, wo sie von bekannten Kunsteinrichtungen aufgenommen werden. Das ist keine Lebensweise, sondern eine Strategie, weil diese Künstler mit ihren Arbeiten gerade auf das weitverzweigte System von Institutionen der zeitgenössischen Kunst reagieren – Museen, Kunsthallen, Galerien, nicht kommerzielle Einrichtungen, Kuratoren und so weiter, mit denen Künstler oft nicht viel zu tun haben. Die einen nehmen in dieser Situation eine defensive Haltung ein (sie gehen beispielsweise in die Performance-Szene für die sie wieder Kuratoren noch Geld brauchen), die anderen eine Offensive wie Dellbrügge de Moll, die in ihren Arbeiten die Recherche von Kuratoren, Museen oder, wie in diesem konkreten Fall, von Behörden beanspruchen. Letztere haben ja bekanntlich ganz andere Pläne für die Grube auf dem Manegen-Platz.
Für Moskau wurde ein Entwurf aus dem Bereich der papierenen Gesellschaftsarchitektur gewählt, weil die Künstler Moskau als eine papierene Stadt empfinden: sie verblüfft der gleichsam imaginäre Charakter aller künstlerischen Einrichtungen. Das Institut für Zeitgenössische Kunst ist mit einer beachtlichen Anzahl von Computern ausgestattet und im Ausland weitgehend bekannt, besitzt aber kein wirkliches Ansehen im eigenen Land. Das Zentrum für Zeitgenössische Kunst ist mit den gleichen Problemen konfrontiert und hat sich in der Konsequenz fast völlig in die Produktion einer Kunstzeitschrift zurückgezogen. Die Sammlung des Museums für Zeitgenössische Kunst existiert in virtuellem Zustand in einem Bunker des Zarizino-Museums.
Als Virtualitätsdenkmal konzipieren die Künstler den Entwurf eines Gebäudes, das unendlich aus einem sich wiederholenden Modul aufzubauen ist, dem Modell des Kabakov-Ateliers (wo sich das Institut für zeitgenössische Kunst Moskau zur Zeit befindet).
Die zeitgenössische Kunst hat im heutigen Moskau in der Tat keinen eigenen Platz. Noch spannender ist jedoch die Tatsache, dass sie auch der eigenen Zeit beraubt wird, denn von welcher zeitgenössischen Kunst kann vor einem Hintergrund der im Bau befindlichen Erlöser Kathedrale die Rede sein? Das Projekt könnte somit auch „ICA contra EK“ betitelt sein und als polemisches Gegensymbol verstanden werden. Die Künstler haben allerdings keinen Vorschlag sondern eine Aussage über die Moskauer Situation unterbreitet und dieser architektonische Kommentar will kommentiert werden.
In Moskau fasziniert die Künstler der Umstand, dass sich die Einrichtungen, die sich mit zeitgenössischer Kunst von Weltformat befassen, ihren zauberhaften Underground-Charakter bewahrt haben und immer noch inoffiziell sind. Deshalb hat das „Substitut für Zeitgenössische Kunst“ keine Fenster und sieht im Entwurf wie ein mehrgeschossiger Kerker aus. Dies bringt wohl zum Ausdruck, dass die räumlichen Beziehungen zwischen „Underground“ und „Overground“ in unserer zeitgenössischen Kultur nicht geklärt sind. Im Verlauf von fast zehn Jahren arbeitete sich die einzige Katakomben-Kultur an die Oberfläche empor. Sie simuliert mehr oder weniger erfolgreich ihren neuen offiziellen Status, während die einzige offizielle Kultur in den Untergrund verdrängt wurde, nämlich in die Metrostation Revolutionsplatz, deren Besichtigung ähnlich abenteuerlich geworden ist wie der Besuch des Kellerateliers eines Avantgardisten besonders da diese Metrostation als nahezu letztes Schutzrevier von Monumentalskulpturen der Sovjetzeit erhalten geblieben ist.
In den letzten zwei Jahren änderte sich die Situation. Eindrucksvollstes Beispiel ist die schnelle Transformation des unterirdischen (wenngleich offenen) Schwimmbades Moskwa (das Baden dort viel zeitlich mit der Underground-Periode unserer Kunst zusammen) in etwas beängstigend Überirdisches. Das Schwimmbad als Projekt der Tauwetterperiode war natürlich eher ein Grab für den Soviet-Palast als eine Antithese zur Kirche. Das, was aus ihm emporgewachsen ist, ist deshalb viel eher ein Denkmal der sowjetischen Triumphästhetik, als ein Werk der russischen Baukunst des 19. Jahrhunderts. Diese Triumphästhetik tauchte aus den Metro-Bunkern wieder auf und kehrte auf die Straßen der Stadt im Stile der Station „Komsomolskaja-Ring“ zurück, der jetzt unter dem Vorwand, das historische Stadtbild restaurieren zu wollen, im Moskauer Stadtzentrum in Szene gesetzt wurde.
Die aktive Moskauer Bautätigkeit der letzten Jahre ist vom Sieg des Überirdischen gekennzeichnet: der in seine Gedankenwelt vergrabene Underground ist von Ideen überwuchert wie: „Wir haben nichts zu verbergen“, „Wir haben vieles worauf ich stolz sein können“ und „Wir werden es ihn zeigen“. Gerade auf dem Manegen-Platz, der die Aufmerksamkeit der deutschen Künstler auf sich gezogen hat, wollte man anfangs ein unterirdisches Einkaufs- und Gastronomiezentrum schaffen. Nicht von ungefähr wurden die Pläne jedoch geändert. Es wurde nämlich bekannt, dass ein Ensemble irgendwelcher Bögen und Skulpturen zur Oberfläche emporsteigen wird. Es ist allerdings bisher unklar, wie hoch. Es wird auch geplant, einen Teil des Neglinka-Flüsschens, der noch im vorigen Jahrhundert mittels eines Rohrsystems kanalisiert wurde, nachzugestalten, was eindeutig als Geste zu verstehen ist, dass geheime Schatzkammern aufgeschlossen und unterirdische Reichtümer vorgeführt würden. Zugleich sind all diese Vorführungen absolut fiktiv, auch die Erlöserkirche wirkt wie eine Fata Morgana im Las-Vegas-Stil, selbst ohne die Lämpchen, die ihre halb errichtete Kuppel simulieren sollten.
Die deutschen Künstler nehmen mit ihrem Projekt nicht zu der Frage „Sein oder Nichtsein“ in Bezug der zeitgenössischen Kunst Stellung, sondern bringen eher ihre Zweifel zum Ausdruck. „Ist es da oder ist es nicht da?“ Im heutigen Moskau befinden wir uns in der interessanten Situation einer ontologischen Unsicherheit. Wir wissen nämlich nicht, was wirklich existiert oder nicht existiert. Das bezieht sich insbesondere auf die Merkmale eines zivilisierten Staates, zu welchen neben der Marktwirtschaft und der Demokratie auch die zeitgenössische Kunst zählt, die vom Normalverbraucher abgelehnt wird, diesem aber demokratische Freiheiten sichert: die Performance-Freiheit ist Unterpfand der Kundgebungsfreiheit. Gerüchten zufolge steht hinter der Stadtplanung für den Manegen-Platz die Absicht, den gefährlich großen Freiraum an den Kreml-Mauer aus der Welt zu schaffen. Es ist ganz klar, dass ein öffentliches Forum für zeitgenössische Kunst in der Art des Centre Georges Pompidou hier für Russland von größerem Nutzen wäre als das freigelegte Neglinka-Flussbett: als Fortschrittsgarantie, wenn es schon keine anderen Garantien mehr gibt.
Ekaterina Djegot: „Tiefe Grube als Ort für zeitgenössische Kunst” in: Kommersant Daily Nr. 25, 17. Februar 1996