Reconstructing Future
Intervention im öffentlichen Raum mit 40 AkteurInnen, Kostüme: Anna Sophie Howoldt, Dramarturgie: Sarah Hillinger
26. August bis 11. September, München 2012
1972 boten die Olympischen Spiele den Anlass, der Welt ein neues Deutschlandbild zu präsentieren: Jung, spontan, gewaltfrei. Man wollte die Selbstinszenierung des Staats bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 vergessen lassen und die moderne Industrienation BRD ins Bild setzen. Uns interessierte der Paradigmenwechsel im Verständnis von öffentlichem Raum als großer Spielwiese, die zur Aneignung einlud. Und ein neuer Umgangston des Staates mit dem Bürger, der nicht potentielle Störer sah, sondern Mitspieler. Um diesen neuen Bildes willen ließ man sich auf das Risiko ein, etwas Neues zu auszuprobieren.
Zum einen in Stadtplanung und Architektur: Die Zeltdachkonstruktion des Olympiastadions von Behnisch + Partner war nie zuvor erprobt worden. U-Bahn und Fußgängerzonen entstanden. München wandelte sich zur Weltstadt.
Zum zweiten im Erscheinungsbild: Man engagierte den progressiven linken Designer Otl Aicher, der kompromisslos ein demokratisches Verständnis von Design vertrat. Seine Gestaltung erfasste alle Bereiche der Olymischen Spiele bis ins kleinste Detail. Seine Auffassung von den Spielen nicht als Show sondern als Fest, als Miteinander, prägten den Auftritt.
Zum dritten in der Selbstdarstellung der Staatsmacht: Man wollte aus den Schwabinger Krawallen lernen, die die Polizei blutig niedergeschlagen hatte. Eine Schlüsselrolle spielte der Polizeipsychologe Georg Sieber, der 1969 in München den integrierten Einsatz, die Münchner „weiche Linie“ eingeführt hatte. Statt auf Konfrontation und Kontrolle setzte er auf Zulassen und Zuhören und das Prinzip der Nähe. Die Ordnungskräfte wurden für die Zeit ihres Einsatzes ihrer Polizeifunktion enthoben. Es ging nicht um Ordnung um jeden Preis, sondern um eine entspannte Atmosphäre. Entsprechend trainierte er die 2000 Ordnungskräfte, die offen, aufmerksam und kommunikativ auf die Leute zugingen. „Was haben wir geübt, um nicht mehr im Gleichschritt zu gehen!“ und: „Ihr macht komische Sachen und ihr seht komisch aus,“ sagte er zu seinen Leuten, denn zu ihrer neuen Rolle kamen neue Kostüme, die den Auftritt unterstützten. Himmelblaue Safari-Anzüge und weiße Ballonmützen ersetzten Polizeiuniformen und korrelierten mit einem Verhaltenskodex, der auf Nähe und Kommunikation setzte, statt auf Kontrolle.
Das Olympische Kommittee hatte den französischen Modedesigner André Courrèges engagiert, das gesamte Servicepersonal von 40 000 MitarbeiterInnen auszustatten. Die Farben basierten auf der Farbpalette von Otl Aicher: gelb, hellgrün, orange, himmelblau, silber und funktionierten als Farbcode: Jede Farbe stand für eine Funktion.
Der Anschlag auf die israelischen Sportler durch palästinensische Terroristen am 5. September setzte dem Experiment ein jähes Ende. Die Münchner weiche Linie war diskreditiert. Innenpolitische Hardliner gewannen die Oberhand.
Reconstructing Future verweist auf den Verlust einer möglichen Zukunft. Der kurze historische Augenblick, in dem sich ein Fenster in eine andere Zukunft öffnete, wurde wiederbelebt. Wie Restauratoren legten wir ein Detail eines verschütteten gesellschaftlichen Experiments frei.
Vom 26. August bis 11. September 2012 waren 40 Akteurinnen und Akteure in der Münchner Innenstadt unterwegs. Ihre Kostüme, Reinterpretationen der Courrèges-Outfits, entwarf die Modedesignerin Anna Sophie Howoldt. Die vier Farbgruppen, Himmelblau, Gelb, Grün, Orange und Silber, knüpften lose an die ursprünglichen Funktionen an: Himmelblau waren die Ordnungskräfte, die Überwege sicherten, Auskunft erteilten und den Überblick behielten. Orange, ursprünglich Platzanweiser und Parkplatzwächter, markierten und benannten den Stadtraum und machten Strömungsversuche. Gelb, damals für die Sauberkeit verantwortlich, sammelte Gesten, die sich zu einem nonverbalen Vokabular addieren. Grün, 1972 Rundfunk und Fernsehtechniker, wurden von uns mit Kameras ausgestattet und dokumentierten fortwährend das Geschehen. Die Koordinatoren der Gruppen trugen silberne Overalls. Gemeinsam mit der Dramaturgin Sarah Hillinger entwickelten wir ein Verhaltensrepertoire und choreografische Miniaturen. Damit entstanden entlang wechselnder Routen durch die Münchner Innenstadt und den Olympiapark Interaktionen, die sich an den Verhaltensregeln der Ordnungskräfte von 1972 orientierten und sich den öffentlichen Raum zu eigen machten.