Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen.
5-Kanal-Videoinstallation mit 40 Auszubildenden
Marcel-Breuer-Schule, OSZ für Holztechnik, Glastechnik und Design
und Martin-Wagner-Schule, OSZ Bautechnik II, Berlin 2008

Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen.
Wandmalerei
Marcel-Breuer-Schule, OSZ für Holztechnik, Glastechnik und Design
und Martin-Wagner-Schule, OSZ Bautechnik II, Berlin 2008

Eine Schule besteht nicht nur aus Gebäuden und Pausenhof, aus Tafeln, Overheadprojektoren und Computern, aus Stundenplänen, Lehrplänen und Raumbelegungsplänen, sondern auch aus den Menschen, die sie füllen. In der Marcel-Breuer-Schule und im Oberstufenzentrum Bautechnik wird die ganze Palette baubezogener Berufe gelehrt: von Betonbauern und Maurern über Glaser, Bodenleger, Tischler, Gerüst- und Fassadenbauer bis zu Produktdesign-Assistenten, Bauzeichnern und angehenden Architekten. Rund 3500 Schülerinnen und Schüler absolvieren aktuell eine Ausbildung. Sie alle haben mit gebauter Realität zu tun. Uns interessierte, was sie über diese Realität denken. Für gewöhnlich nehmen wir es als selbstverständlich hin, dass unser urbanes Umfeld von Investoren, Politikern und Stadtplanern geprägt wird. Die Gewinnung kommerzialisierbarer Flächen und der reibungslose Fluss des Verkehrs bestimmen die Parameter der Gestaltung. Im Gegensatz zum abstrakten Raum der Experten ist der Raum der Nutzer konkret und subjektiv, wie der französische Philosoph Henri Lefèbvre betont, ein gelebter Raum alltäglicher Aktivitäten. Was wäre, wenn die Bewohner Zugriff auf ihre Stadt bekämen? Wenn sie sich aussuchen könnten, wie sie leben, wohnen und arbeiten? Wie würde eine Stadt aussehen, wenn sie bestimmen könnten?

Um diesen Fragen Gesichter und Stimmen zu geben, besuchten wir die Schulklassen, erzählten von der geplanten Videoinstallation am neuen Standort und luden sie zum Casting ein. Am Ende von zwei Wochen waren in den großen Pausen Probeaufnahmen von 176 motivierten Schülerinnen und Schülern entstanden, die nach ihrer Meinung gefragt werden wollten und Lust hatten, über ihre Zukunftsvorstellungen zu sprechen, die sich vor der Kamera ausprobieren wollten und fasziniert davon waren, dass ihr Videoporträt für die nächsten dreißig Jahre im neuen Schulgebäude hängen könnte. Es war nicht leicht, aus diesem Pool eine Auswahl zu treffen. Das Kriterium einer großen Bandbreite gab letztlich den Ausschlag: Von beiden Schulen wollten wir gleich viele Personen einbeziehen, darunter ebenso viele Frauen wie Männer, und die Fachrichtungen möglichst umfassend berücksichtigen.

Die vierzig Akteure, die wir stellvertretend für ihre Mitschüler auswählten, kamen in Gruppen von fünf Personen für eintägige Workshops in unser Studio. Im Wechsel von Gesprächen und Videoaufnahmen erarbeiteten wir gemeinsam die einzelnen Statements. Wir diskutierten individuelle Wohnlösungen und kollektive Modelle, Wertvorstellungen zwischen Minimum und Luxus. Wir sprachen über Erwerbsarbeit und bedingungsloses Grundeinkommen, Selbstverwirklichung und Selbstausbeutung. Auf dieser Basis entwarfen die Mitwirkenden schließlich die komplexe Struktur einer Stadt und bedachten das gewünschte Klima, Anlage und Baustile, Verkehr, Wirtschaft, Entertainment und die politische Organisationsform. Dabei waren sie gefordert, einen utopischen Sprung zu riskieren und den Horizont des faktisch Gegebenen hin zur gewüschten Fiktion zu überschreiten. Während ein Protagonist vor der Kamera agierte, saßen die übrigen als kritische Beobachter davor und lernten aus Anschauung über die Wirkung von Körpersprache und Artikulation. Die Situation erforderte ein Höchstmaß an Konzentration und Präsenz. Die Beiträge sind improvosiert und frei gesprochen. Aus der Menge des Materials editierten wir den Zusammenschnitt, der nun im Oberstufenzentrum zu sehen ist.

Zwei einander gegenüberliegende Wände des Raums rahmen die Situation. Die ziegelrote Wand ist mit fünf hochkant montierten Monitoren bestückt. Lebensgroß tritt uns auf jedem Display eine Person gegenüber. Beim Näherkommen werden ihre Stimmen hörbar. Kommend und gehend lösen die Akteure einander ab. Das gedeckte Grün der zweiten Wand mit dem weißen Textblock erinnert an eine kreidebeschriebene Schultafel. Die hier enthaltenen Aussagen bildeten in den Workshops die Grundlage der Auseinandersetzung. Für die Betrachter stecken sie das thematische Feld ab:

„Meine Wohnung soll bei einem Minimum an Materie ein Maximum an Schutz bieten. Meine Wohnung soll für mich sorgen. Sie soll sich um Einkauf, Wäsche, Dekoration und mein Wohlbefinden kümmern und für jede Stimmung die Fenster auf den passenden Ausblick schieben. Ich wünsche mir eine bewegliche Wohnung aus Glas, die sich in alle Richtungen frei bewegen kann. Luxus ist mir wichtig. Auf Komfort kann ich verzichten. Die Arbeitszeit soll auf vier Stunden verkürzt werden. In meiner Arbeit will ich mich selbst verwirklichen. Nie wieder arbeiten! Meine Unterkunft soll Teil einer Gemeinschaft sein. Besitz, Erziehung, Versorgung und Unterhaltung sollen kollektiv organisiert sein. Ich bevorzuge Anonymität und lebe lieber isoliert. Ich will stets in meiner vertrauten Umgebung bleiben. Meine Lebensumstände möchte ich häufig wechseln. Mein Haus soll zugleich ein Fahrzeug sein. Meine Wohnung soll in großer Höhe liegen. Am liebsten bewohnte ich ein schwebendes Haus. Meine Wohnung soll in die Natur integriert sein – auf dem Wasser treiben, in einer Baumkrone hängen oder unter der Erde liegen. Ich wünsche mir eine Wohnung mit Türen nach Paris, New York und London und eine Terrasse, die auf die Karibik führt. Am wohlsten fühle ich mich in historischem Ambiente. Lieber lebe ich in einer Architektur, die dem Zeitgeist entspricht. Ich glaube, ich bin meiner Zeit voraus. Mein Haus ist noch nicht gebaut.“

Der Titel „Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen.“ formuliert einen Anspruch und ein Zutrauen in die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler, Lebensbedingungen zu reflektieren, zu gestalten und zu verändern. Über die handwerkliche Fertigkeit und das Knowhow hinaus zielt er auf das eigene Selbstverständnis: Es geht darum, die eigene Rolle als Akteur zu definieren. Wir alle wohnen und entwickeln als Konsumenten Qualitätskriterien für Möbel, Häuser und Städte. Die Auszubildenden sind darüber hinaus aktiv in die Herstellung gebauter Umwelt involviert, von der Konzeption bis zur Realisierung, vom Großen und Ganzen bis ins Detail. Die Videoporträts sind eine Momentaufnahme der Schülergeneration zum Zeitpunkt des Einzugs in das neue Gebäude. Wie eine Zeitkapsel konservieren sie politische Mentalitäten und psychische Befindlichkeiten. Kunst am Bau soll in der Regel 30 Jahre überdauern. Mit dieser Langzeitperspektive ändert sich der Blick auf die Protagonisten. Schülerinnen und Schüler durchlaufen nur temporär das Oberstufenzentrum. Sie sind das fluktuierende Element. Wird es auf Dauer nicht langweilig, immer wieder dieselben Figuren auf den Monitoren aufmarschieren zu sehen? Wir glauben, dass die Arbeit wie ein Käse oder guter Wein mit den Jahren interessanter wird. Nicht nur Mode und Habitus, auch Meinungen und Haltungen wandeln sich. Trägt man in 10 Jahren überhaupt noch Baseballkappen? Wie viele Arbeitsstunden wird ein Tag in 15 Jahren haben? Wird sich in 20 Jahren noch irgendjemand an 3er BMWs erinnern? Baut man dann nur noch Niedrigenergiehäuser? Werden in 30 Jahren Städte, wie wir sie heute kennen, noch existieren? Oder leben wir dann alle am Strand? Wann wird die Wirklichkeit die Wünsche einholen?

aus: Dellbrügge de Moll, Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen., Berlin 2008