Soziale Kontrolle/Lexikalische Zeichnungen
Museum für Neue Kunst, Freiburg 1991
Lexikalische Zeichnungen
Museum für Neue Kunst, Freiburg 1991
1991 zeigte das Museum für Neue Kunst im Rahmen der Sonderausstellung „Dellbrügge de Moll. Ein Leben für die Kunst“ zwei Arbeiten, die im Vorfeld, aber unabhängig voneinander entstanden waren, als Ensemble unter dem Titel „Soziale Kontrolle“. In einem der sieben Ausstellungsräume waren neun Kinderstühle in drei Reihen hintereinander blockartig zusammengestellt, die Lehnen zur Fensterfront gerichtet. So dem Raum zugewandt, hätten darauf Platz nehmende Kinder, die an drei Wänden tief gehängte Reihe beschrifteter Schiefertafeln bestens im Blickfeld gehabt. Die vermutlich gerade mal für Erstklässler geeigneten Stühlchen haben Rahmen aus Buchenholz, die Lehnen und Sitzflächen sind aus rot lackiertem und geleimten Bugholz. Die Schultäfelchen in Nadelholz-Rahmen mit abgerundeten Ecken und seitlichen Lochbohrungen zeigen „Lexikalische Zeichnungen“, die einer Ausgabe des Bertelsmann Volkslexikon von 1956 entstammen und von Dellbrügge de Moll als Vorlagen verwendet wurden. Mit weißen Griffeln sind die aufnotierten Begriffe mittels einfachen, dabei filigranen Zeichnungen bildhaft und anschaulich visualisiert.
Wie selbstverständlich fügt sich die Installation in die Räume des MNK, das als ehemaliges Schulgebäude weiterhin als „Lehranstalt“ genutzt wird. Das Museum nicht nur als Oase der Erbauung, sondern auch als Ort der Lern- und Wissensvermittlung. Als Ensemble ergänzen und verstärken sich die heidenformal sehr unterschiedlichen Arbeiten mit durchaus eigenen inhaltlichen Schwerpunkten in ihrem installativen Charakter und ihrer Aussage.
Die Präsentation von heute irrelevant gewordenem Wissen in Gestalt veralteter „Hard- und Software“, mit der die Erinnerung an Täfelchen anstelle von Schulheften ebenso geweckt wird wie die Assoziation von großen Tafeln statt Overhead-Folien und Beamern, verweist zugleich in einem grundsätzlicherem Sinn auf die Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Bei den Stühlen, Symbolträgern von Disziplin und Ordnung und gleichgesetzt mit dem Schulbeginn als Einstieg in die Phase des Wissen anhäufenden Lernens, schwingt aber auch – mit leichter Wehmut – die Frage nach dem möglichen Verlust grenzenloser Entfaltungsfreiheit mit.
Dellbrügge de Moll, die seit 1984 Kontext bezogen und Medien übergreifend an Schnittstellen von öffentlichen und institutionellen, inzwischen auch digitalen Räumen arbeiten, schufen mit dieser Installationen vorstellungsmächtiges Werk, das gerade aus seiner gleichsam miniaturisierten Objektsprache subversive Wirkung bezieht. Die Schiefertafeln als Träger von Informationen, die aufgetragen und wieder weggewischt werden, stehen mit ihrem nostalgischen Charme für die Vergänglichkeit per se und verweisen zudem auf die Halbwertzeit mancher wissenschaftlichen Erkenntnis. Oder anders formuliert: Die zukünftige Bedeutung und Tragfähigkeit neuer wissenschaftlicher Errungenschaften erweist sich – im Positiven wie im Negativen – erst im Nachhinein, im kontinuierlich zu überprüfenden Gesamt-Kontext. Eingebettet in das jeweilige gesellschaftliche Umfeld, ergeben sich immer wieder neuartige Fragen und Aspekte der Bewertung, eng verbunden mit der individuellen Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen. So kann der subtil angeregt Besucher über Disziplin und Reglement, Lernen und Lehren, Freiheit des Geistes und Logik des Denkens, über Erziehung und Bildung, Wissen und Macht reflektieren. Und die Wirkkraft empfinden, mit der künstlerische Eingriffe uns diese Welt vor Augen führen.
Christine Moskopf: „Dellbrügge de Moll“ in: „Bilder Skulpturen Objekte“, Museum für Neue Kunst, Freiburg 2009